Dienstag, 17. Oktober 2006

Das Bild vom toten Kind

Das Bild vom toten Kind hängt im Stiegenhaus. Es lächelt hämisch. Julius hat es die Mutter damals genannt. Nach Caesar, sagt sie immer. Nach dem eigentlichen Vater, sagen die anderen. Halten sich Zeitungen vors Gesicht und schütteln ihre Köpfe.
Die Mutter wischt einmal die Woche mit einem nassen Lappen über das Bild. Lächelt ein wenig. Küsst manchmal die Stirn des Kindes. Dabei sieht nie jemand her. Sie ist sich gewiss. Sie lächelt dabei und nennt es .mein kleines Kind. Dass wird es immer bleiben, das weiß sie genau.
Am Morgen rennen die anderen Kinder daran vorbei, schubsen sich. Die Schultaschen prallen an die engen Wände. Manchmal fällt das tote Kind dabei herunter. Die Mutter schreit dann meistens und holt keinen von der Schule ab. Versteht ihr nicht? fragt sie. Und alle verneinen. Schütteln ihre kleinen Köpfe, während sie das Bild wieder aufhängt. Vom Kind mit dem hämischen Lachen, von dem keiner mehr erfahren wird, was passiert ist. Was die Kinder nicht stört, noch nicht, denn sie rennen weiter, aus dem Haus, wo sie sich anrempeln können und keiner mehr an das Kind denken wird. Das viel länger tot ist, als sie leben. Von dem man sagt, es sei ihr Bruder. Doch Brüder lachen nicht bloß von der Wand, und noch dazu so seltsam, das wissen sie genau.
Kein Engel am Grab des toten Kindes. Das ist nicht nötig, sagte die Mutter, weinte ein wenig, pflanzte einen Fliederbusch. Davon kein Bild im Stiegenhaus. Das ist ebenso nicht nötig. Im November nimmt sie ihre Kinder, die immer größer werden, mit auf den Friedhof. Seid ein wenig still, sagt sie zu ihnen, hier liegt das tote Kind. Und sie stellen sich vor, wie man damals das Foto begraben hat und keiner versteht, was die Stille soll. Und der Ort hier und das tote Kind. Es reicht doch dort im Stiegenhaus.
Als das Kind starb, war die Mutter eigentlich immer noch zu jung, um ernsthaft an Kinder zu denken. Das war auch Schuld, sagen die anderen, die immer alles besser wissen. Die es kommen sahen, dass sowas nie gut geht. Auf die aber nie wer hört, und wenn dann zu spät.
Nur als das Kind auf die Fensterbank kletterte, als die Mutter nicht hinsah, als das Kind sich zu weit hinausbeugte, als die Mutter immer noch nicht hinsah, als das Kind fiel, als die Mutter das Kind suchte, als das Kind tot im Rasen lag, als die Mutter schrie, so laut, da wussten sie nichts mehr besser, schüttelten trotzdem die Köpfe, hinter schwarzen Sonnenbrillen und küssten den Sarg. Das hat ihnen die Mutter nie verziehen, das hat auch keinen Sinn mehr.
Niemand nennt es mehr beim Namen, das tote Kind. Es lächelt trotzdem von der Wand, hat wohl selber vergessen wie es heißt, warum es nicht mehr wächst und die Mutter meistens wegsieht, wenn sie an ihm vorbeigeht. Es ist dem Kind auch egal. Sowie das Leben und der Tod und die Geschwister die es nie kennenlernen wird. Bloß wird das die Mutter nie verstehen und die Kinder, die mit ihren Schultaschen an der Wand entlangschlittern, viel zu früh.
Das Bild des toten Kind hängt im Stiegenhaus, zehn Treppen vom Erdgeschoß entfernt und drei von dem darüber. Ich glaube an den Himmel, sagte die Mutter damals laut vor sich hin, als sie den Nagel in die Wand schlug, nahm dann das Bild aus dem Karton und war in der Hölle.

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