Prosa

Dienstag, 11. Dezember 2007

Paula

"Ich lese Judith Hermann gerne, weil ich die Sätze mag, in denen ich danach denke", sagt Paula zu mir, da gehen wir gerade die Straße hinauf, auf der kein Schnee mehr liegt. "Ich denke dann immer sehr distanziert von allen um mich herum und nehme meine Bewegungen aus einer Beobachterposition ein, weißt du? Also zum Beispiel, würde ich dann jetzt denken: Und dann gehen wir die Straße hinauf, die schief ist und das Mädchen neben mir, hat ein Stummfilmgesicht."
Paula bringt mich mit solchen Aussagen schon lange nicht mehr zum Lachen. Vielleicht hat sie das auch nie und ich will ihr eigentlich auch gar nicht unterstellen, dass sie das überhaupt will. Ich weiß selber nicht, was Paula eigentlich damit bezweckt.
"Ich habe noch nie einen Stummfilm gesehen", antworte ich und dass es bald wieder schneien soll und ob sie noch mitkommen will, auf eine Tasse Tee, gerne auch schwarz, gerne auch Kekse, Paula, sogar Kekse für dich, Paula. Und natürlich will sie das und will auch noch neue Fotos der albernen Exfreundin ihres Exfreundes im Internet suchen. "Weißt du", sagt sie dann, "ich habe begriffen: nichts an ihr ist besonders."
Da sitzen wir also, Paula und ich und die Fotos der Exfreundin, die wirklich nicht besonders aussieht und ich nippe an dem Tee, den Paula erst in fünf Minuten anfangen wird zu trinken. Zu heiß für ihre empfindliche Zunge, erklärt sie immer und die Lippen werden davon auch nur spröde. Ich reiche ihr Honig und suche mir Stricksocken. Ich winkle die Beine an und sage ihr: "Paula, wir sollten uns jeden Tag fünf Minuten aussuchen, die wir uns momentgenau einprägen und uns am Abend vor dem Schlafengehen am Telefon erzählen."
Ich weiß auch nicht genau, warum ich das sage, ich will gar nicht wissen, was Paula fünf Minuten lang genau macht. Ich befürchte, dass darin zuviel Internetrecherche und Zigaretten vorkommen, was mich langweilen würde und dann würde ich sie unterbrechen und alles endet dann jedesmal im Streit. Niemand schläft gut, niemand wacht gut auf, Paula würde noch mehr Kaffee brauchen und mir davon erzählen. Aber als mir diese Bedenken kommen, ist Paula längst restlos von meinem Vorschlag begeistert, sagt: "Auja" und schlägt mir auf den Oberschenkel.
Ich sitze in der Straßenbahn am nächsten Tag und sehe aus dem Fenster, ein altes Haus, reiht sich an das nächste, an der einen Haltestation küsst ein Mann eine Asiatin, die einen langen Rock trägt und ich denke: das habe ich noch nie gesehen. Asiatinnen die lange Röcke tragen. Und schon geht es weiter, Schienengeratter, ein Radfahrer überholt uns auf einem roten, alten Rennfahrrad, er trägt keine Handschuhe, er friert bestimmt. Als ich aussteige, denke ich an das Wochenende und dass Florian bald mal vorbeikommen soll, auf ein Glas Wein oder Orangensaft. Dann würde ich ihn fragen, ob wir mal wieder wegfahren, vielleicht über Pfingsten, das ist zwar noch lange hin, aber das wäre doch etwas.
Ich erzähle Paula abends davon und sie schweigt und seufzt, dann sagt sie: "Als ich Florian küsste, da waren seine Augen grün wie Moos und ich sagte ihm das und er freute sich nicht."
Und dann schweige ich und sage: "Paula, ich muss mich hinlegen." Und Paula sagt: "In Ordnung."
Ich sitze im Bett dann und denke nicht, nicht an Florian und nicht an Paula, auf der Seite liegend schlafe ich ein und wache ebenso wieder auf. An der Haltestelle stehe ich neben einem Kind mit einem Ballon, Paula ruft an, ich sage: "Noch zwölf Minuten, dann bin ich da."

Samstag, 4. August 2007

Epilog

Man muss sich das so vorstellen:

Nils sitzt am Fenster und sagt nichts. Er wüsste auch gar nicht wieso. Es sind Ringe die er mit dem Zigarettenrauch formt. Es ist der Regen der nicht kommt.

Ana steht im Türrahmen. Sie will einen Kuss. Genau auf die Lippen genau jetzt. Sie sieht Nils an, der sie nicht ansieht. Sie dreht sich um. Sie dreht sich wieder zurück.

Nils beobachtet sie aus den Augenwinkeln. Er drückt die Zigarette aus und hüpft vom Fensterbrett. Drei Schritte macht er auf sie zu, dann zögert er ein weiteres Mal. "Vielleicht nicht so" sagt er.

Ana nickt. Sie macht ebenfalls drei Schritte in den Raum hinein. Ihren Kopf legt sie schief, ihr Lächeln ist gerade. "Das weiß ich doch" sagt sie.

Nils stopft seine Hände in die Hosentaschen. Er sucht seine Schuhe. Er erblickt sie neben dem Schreibtisch. Am Abend wird er sich nicht verfluchen. Die Stunden fliegen nur so durchs Land.

Ana blickt weg. Ana blickt wieder zurück. Auch ihre Schuhe stehen neben dem Schreibtisch. Nicht im Entferntesten denkt sie daran sie anzuziehen. Nicht im Allerentferntesten.

Nils umarmt Ana. Er küsst ihre Hand. Er runzelt die Stirn. Morgen wird er sie anrufen. Da wird wieder alles anders sein. Draussen ist der Regen immer noch nicht da.

Ana zieht ihre Hand weg. Sie blickt ihn nicht an, nicht mehr. Vielleicht war das eine Entscheidung, meint sie. Auf dem Fensterbrett sitzt eine Taube. Ana mochte Tauben noch nie.

Donnerstag, 26. Juli 2007

Salz

Sollte ich jemals eine Speise nennen müssen, die mich an die neunziger Jahre erinnert, so wäre das Kräutersalz. Das aß ich damals nämlich in Mengen, Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter. Das gesamte Jahr neunzehnhundertsechsundneunzig hindurch. So ist es mir zumindest im Gedächtnis geblieben, das Kräutersalz und das Jahr, indem ich anfing Packungsbeilagen zu katalogisieren und Wörter rückwärts zu denken. In dem ich Pommes mit Kräutersalz aß und selten aus dem Fenster starrte. In dem Mama mich ein, zweimal zu stark umarmte und ich nickte, wenn sie sagte: „Alles geht vorbei.“
Mama hatte auch meist Recht mit den Dingen die sie sagte, auch im Bezug auf das Kräutersalz, das ich bis heute nicht mehr essen kann, ohne Magenschmerzen zu bekommen. Psychosomatisch sei das, sagt Mama dazu und auch dabei widerspreche ich ihr nicht. Sie ist dünn geworden im neuen Jahrtausend, sie hat mit dem Klavier spielen angefangen, manchmal steht sie im Türrahmen, wenn ich nachhause komme und winkt mir zu. Mein Kind, sagt sie dann und lacht. Ich meine das ernst, sie lacht tatsächlich und hält mir die Tür auf, während ich in die Küche schlurfe, welche immer noch zu dämmrig ist und nach Essen riecht, das hier lange niemand mehr gegessen hat. Über zehn Jahre schon nicht mehr und auch die nächsten zehn Jahre wird das so bleiben, vielleicht auch die nächsten zwanzig oder dreißig, beinahe bin ich mir dessen sicher.
Genau gesagt riecht es nach Fisch, aber nicht unangenehm, mehr nach Fischstäbchen oder dem Fett in dem man sie gebraten hat. Ein wenig riecht es auch nach Ananas an manchen Tagen, früher hat Mama dann das Fenster geöffnet, aber nichts half, irgendwann war der Geruch egal und die Fenster zu, bis es wieder Frühjahr wurde und davor die Gänseblümchen wuchsen, die Krokusse und die Märzenbecher. Meine Mutter ist eine rationale Person, sie denkt bevor sie spricht, sie denkt bevor sie fühlt. Das darf nicht negativ verstanden werden, ich meine damit nur, dass sie für alles eine Erklärung hat. Wie für die Gerüche, die daher kommen, dass einfach in den Jahren vor 1996 zuviel von den Speisen in der Küche verzehrt wurden, dass der Geruch sich schon vorher manifestiert hatte und nur nicht auffiel. Würde man endlich mal neu tapezieren, wäre der Spuk vorbei, was heißt Spuk, der Geruch eben, die komische Luft, mit dem Wort Spuk malt man viel zu oft Gespenster an die Wand, und die gehören da sicher nicht auch noch hin, sagt sie dann und lacht. Und ich nicke und manchmal lache ich auch und dann war es das auch wieder mit dem Gespräch über die Küche. Und es ist gut so.
Mein Vater jedenfalls, der aß Fischstäbchen und Ananas ohne Ende. Was aus dem Meer kommt, ist gesund, erklärte er mir und mit Früchten die eine Farbe wie die Sonne hätten, könnte es nicht anders sein. Er arbeitete viel und abends hätte er sich sein Lieblingsessen eben verdient, meinte Mama ohne zu wiederreden. Jeden zweiten Tag kochte sie ihm Fischstäbchen, setzte sich dann neben ihn an den Tisch und hörte zu, was er zu erzählen hatte. So wäre das auch am 17. Februar gewesen, wäre mein Vater pünktlich vor der Tür gestanden und nicht statt ihm der stammelnde Polizist, der etwas von Unfall und Identifizierung redete, der Mama in den Mantel half und so lange bei mir blieb, bis sie aus dem Krankenhaus wiederkam. Er sprach nicht viel, ich erinnere mich nur vage an ihn, wie er in der Küche stand und mich fragte, ob ich Stadt, Land, Fluss spielen wolle.
Er hatte mich das dritte Mal gewinnen lassen, als Mama wiederkam und sich bei ihm bedankte, die Fischstäbchenpackungen aus der Kühltruhe nahm und auf den Müll schmiss und die Ananas aus der Speisekammer ebenso. Sie war ruhig als sie mir erklärte was passiert war, was mich nicht beunruhigte und einschlafen ließ, ohne viel zu weinen.
In den Wochen darauf muss das mit dem Kräutersalz angefangen haben.
Erst schleichend, fast unscheinbar begann ich Essen zu salzen, erst die Suppe, dann die Kartoffeln, dann das Brot und irgendwann auch die Schokolade. Konzentriert starrte ich dabei auf das Salz, wie es aus der Packung auf die Lebensmittel rieselte und manchmal hielt ich meine Hand dazwischen, um ein wenig davon aufzufangen und mit der Zunge darüber zu schlecken. Mutter sagte zu all dem nichts, sie überließ dies Großmutter, die mir nicht selten das Kräutersalz aus der Hand riss und Mutter tadelte, dass sie besser auf mich aufpassen sollte. Aber ihre Tochter hörte nicht auf sie, hörte sie einfach gar nicht, nicht nur im Bezug auf mich, sondern in allen Belangen. Seit Großmutter drei Tage nach dem Begräbnis meines Vaters bei uns eingezogen war, herrschte eisige Stille zwischen ihnen, ich erinnere mich, sie einmal streiten gehört zu haben „Es ist immer noch mein Leben,“ hatte Mutter gefaucht und Großmutter hatte geantwortet: „Aber es ist nicht mehr ganz.“ Woraufhin eine Tür ins Schloss flog und jemand zu weinen begann.
Am nächsten Morgen sprachen sie wieder nicht miteinander und als meine Großmutter mir ein weiteres Mal den Salzstreuer aus der Hand nehmen wollte, riss ihn ihr meine Mutter aus der Hand, streute sich selbst Unmengen davon auf das Brot und biss demonstrativ davon ab, bevor sie aus dem Zimmer ging, Großmutters Sachen packte und vor die Tür stellte. So habe ich meine Mutter nie wieder gesehen und auch Oma blickte sie nur entsetzt an, ohne ein Wort zu sagen und ging dann doch, mit hocherhobenen Kopf aus dem Haus, auf die Straße, zum Bahnhof. Meine Mutter war zu dieser Zeit schon lange in ihrem Zimmer verschwunden und schwieg, schwieg bis der Abend kam und Großmutter sicher nicht wieder, dann gingen wir ins Kino und blickten ungläubig auf die Leinwand, auf die Wirbelstürme, die über Amerika hinwegfegten und wussten, dass niemand auch nur die geringste Ahnung hatte, außer uns.
Ich aß weiter Kräutersalz, auch in der Schule hatte ich jeden Tag meinen eigenen Salzstreuer dabei, um mein Jausenbrot zu verfeinern oder ihn auch nur einfach auf den Tisch zu stellen und anzublicken. Meine Sitznachbarin, ein Mädchen, das ich nie besonders leiden konnte, ignorierte all das vollkommen und ich war ihr sehr dankbar dafür. Die Klassenlehrerin jedoch mißbilligte mein seltsames Verhalten und lud meine Mutter zu einer Sprechstunde ein, zu der meine Mutter wiederum mich mitnahm und wir dann alle drei in diesem engen Zimmer saßen und die Lehrerin viel lächelte und mit den Händen sprach, meine Mutter viel den Kopf schüttelte und kurze Sätze sagte und ich einfach nur dasaß, auf die Wand starrte, aus dem Fenster, hinunter auf die Straße, wo die Schulbusse bereits warteten, um alle anderen Kinder nach Hause zu bringen. Ich bekam das dringende Bedürfnis es ihnen gleichzutun und getraute mich doch nichts zu sagen, spielte mit dem Salzstreuer in meiner Tasche und murmelte dann doch: „Mutter, ich will nach Hause.“ Woraufhin meine Mutter zum ersten Mal nickte, meine Hand nahm, mit der anderen die der Lehrerin schüttelte und mich nach ihr aus dem Gebäude zog.
Sie kochte Spaghetti zuhause und setzte sich am Küchentisch mir gegenüber, als ich zu essen begann. Und während sie mich anblickte sagte sie: „Alles geht vorüber. Auch das Salz, deine Trauer und mein Schmerz.“ Ich reagierte nicht, da ich nicht wusste wie und begann statt dessen an meinen Vater zu denken, der es nie gemocht hatte, wenn ich am Küchentisch laut redete und ich wunderte mich zum ersten Mal, warum ich ihn nie nach einem Grund dafür gefragt hatte, sondern es einfach befolgte, ihn leise ansah und mir Geschichten über das Meer anhörte, die er gerne erzählte und es fiel mir plötzlich wie Schuppen von den Augen, ich wusste plötzlich, was passiert war, ich wusste, was Mutter sagte, ich wusste was all das sollte und auch Mutter erkannte es, nahm mir das Salz aus der Hand und wischte eine einzelne Träne aus ihrem Gesicht und sagte dann mit fester Stimme: „Am Mittelmeer ist es im Moment besonders schön.“
Auf der Fahrt dorthin hörten wir eine Märchenkassette nach der anderen an, als wir alle durchhatten, begannen wir von vorne und summten dabei die Zwischenmelodien mit. Das Wetter vor dem Fenster war schlecht, es nieselte ein wenig, es schien als würde ein starker Wind blasen, aber das interessierte uns nicht, wir hatten ein Ziel vor den Augen und selten war es uns beiden so bewusst gewesen, dass es sich dabei um das selbe handelte.
Angekommen am Meer, in Italien, blieben wir erstmals im Auto sitzen und meine Mutter lächelte, lächelte mich an, strich mir übers Gesicht und sagte: „Mein Mädchen.“ Sie sah unendlich traurig aus in diesem Moment und ich begann zu weinen, statt ihr, schluchzte zum ersten Mal seit dem Tod meines Vaters. Die Tränen kullerten nur so über mein Gesicht und ich fing die eine oder andere mit meiner Zunge auf. Sie schmeckten salzig und ich beruhigte mich, legte den Kopf auf die Schulter meiner Mutter, die den Motor abgestellt hatte und die Sicherheitsgurt löste. „Komm,“ sagte sie, „das wird helfen.“
Wir stiegen aus, öffneten den Kofferraum und nahmen die zwei Kilosäcke Salz heraus, die wir in der Speisekammer gebunkert hatten. Eine jede einen tragend gingen wir den Strand hinunter. Mein Vater hatte immer erklärt, dass das Meer Salz zurückgibt, weil es dankbar ist, dass die Menschen es so lieben. Und genau daran musste ich denken, dachte ich bereits die gesamte Autofahrt, eigentlich sogar schon seit dem Abendessen, den Spaghetti auf meinem Teller und dem Blick meiner Mutter.
Wir gingen also, im Gänsemarsch an der windigen See entlang und wunderten uns ein wenig, dass es so gekommen war, das Leben und der Tod. Das Salz und der Wind. Der Winter und der Frühling und der Sommer und der Herbst. Meine Mutter öffnete schließlich den ersten Sack, schüttete ihn in das Meer und ich tat es ihr wenig später gleich. Und wie wir da standen am Meer, da kam es, dass die Flut langsam zur Ebbe wurde und plötzlich alles gut war.

Donnerstag, 19. April 2007

Otto (I)

Vielleicht hatte Otto auch viel mehr verstanden, als er am Fenster stand und gar nichts sagte. Es war Sommer und er fror. Otto fror zu oft, sagten die Leute, die ihn die Türen hinter sich schließen sahen und hörten, wie er die Stiegen hochging. Langsam, als hätte er es gerade erst gelernt.
Otto war seltsam, auch dass sagten die Leute. Sie kannten ihn lange, da waren sie sich sicher. Otto der Dorftrottel, meinten manche und lächelten ihn an, wenn er langsam sein Geld an der Kassa nachzählte. Zweimal. Man konnte sich ja nicht sicher sein. Ebensowenig wie man wusste, wann Otto überhaupt im Geschäft auftauchte und ob er nicht vergessen hatte, was er dort eigentlich wollte. Otto, sagte Liese bei der Feinkost dann, Otto, schau her, 10dag Schinken, das kaufst du immer. Und Otto nickte, nahm die Wurst und aß sie alleine zum Abendbrot. Die Fensterläden geschlossen, die nackte Glühbirne über seinem Haupt. Er zählte die Bretter an der Wand, immer und immer wieder. Und wusste, dass sie nicht wiederkam.
Dass sie nicht wiederkam, daran dachte Otte auch als er nun am Fenster stand. Als er am Fenster stand und fror. Ihr Haar war golden gewesen, er wusste es genau, so genau wie er ihren Atem roch, wenn er nachts plötzlich erwachte. Minze überall im Raum. Minze, wie hatte sie die geliebt. Nachdem sie gegangen war, hatte Otto ihren Namen auf ein Taschentuch geschrieben und in eine Schatulle gelegt. Die Schatulle geschlossen und nie wieder geöffnet. Sowie er ihren Namen nie wieder aussprach, er dachte nur daran ihn zu vergessen und schaffte es nicht.
Sie waren über die Felder gelaufen damals, über die Felder nahe der Donau, es war verboten, dachten sie und machten es genau deswegen, fielen ins hohe Gras und tranken Wein aus der Flasche. Otto, der Schüchterne und dieses blonde Mädchen, das ihn an der Hand nahm um ihm das Tanzen beizubringen. Otto, der Schweigsame und dieses schöne Mädchen, das seine Stirn küsste, bevor es abends verschwand. Otto, der Nachdenkliche und dieses wortgewandte Mädchen, das die Welt gesehen hatte, zumindest hatte sie das behauptet. Otto glaubte ihr aufs Wort.
Sie waren zur Donau gefahren, um zu baden. Ihr geblümtes Kleid legte sie neben seine Hosen und zog ihn nach sich ins kühle Nass. Otto hat sie später geküsst, er hat das niemals vergessen, sie hatte gelacht danach. Otto war glücklich. Es war Sommer und es war gut so. Sie waren knapp 20 und dachten sie wüssten Bescheid. Es wurde Winter und es war gut so. Sie waren ein wenig älter und wussten dennoch nicht mehr. Nicht mehr vom Leben, der Liebe, nicht mehr von der Zukunft. Das Mädchen baute Schneemänner und schrieb Ottos Namen in den Schnee. Otto hielt um ihre Hand an und sie lachte. Nahm die seine und sagte ja.
Otto, wie er weinte in diesem Moment, wie er sie umarmte und nicht wusste was zu tun. Wie sie aus dem Haus liefen, zur Donau fuhren und gar nichts sagten. Wie sie vorm Altar standen drei Monate später. Wie sie lachten und in einem Zimmer hausten, dass schäbig war, aber ihr Eigentum.
Otto fand Arbeit in Wiener Neustadt, sie verließen die Felder, zogen in die Stadt. Dort gab es eine Wohnung statt dem Zimmer. Abends wenn sie im Bett lagen, starrten sie lange an die Decke, die blau gestrichen war und lauschten dem Straßenlärm. Wiener Neustadt war nicht das was sie sich gewünscht hatten, aber es war in Ordnung. Das blonde Mädchen, dass immer mehr zu einer blonden Frau wurde, liebte den Wasserturm, den Dom, St. Peter an der Speer. Otto liebte es, wie sie die Gebäude liebte, lief über den Hauptplatz und kaufte sonntags früh frische Semmeln. Warm mussten sie sein, damit die Butter von selbst zerlief.
Ein Kind kam zur Welt, sie nannten es Severin. Es weinte in der Nacht und sie legten es zu sich ins Ehebett. Es zuckte im Schlaf mit seinen kleinen Beinen. Es hatte kleine Hände, so klein, man hatte Angst sie könnten brechen, bei einer jeden Berührung. Es starb Monate später. Plötzlicher Kindstod, nannten das die Ärzte. Nie erholten sie sich davon. Nie kam ein zweites Kind zur Welt. Die Decke über dem Bett blieb blau. Doch das Bett kalt, kalt wie das Meer, an das sie mit dem Kind fahren wollten, kalt wie der Schnee, in dem sie mit dem Kind herumtollen wollten.
Die Jahre zogen ins Land. Sommer und Winter. Manchmal fuhren sie zu Feldern. Meistens wenn der Raps blühte. Sprachen über den Anfang, wie sie sich kennengelernt hatten, wie sie in der Donau schwimmen waren. Wie die Sommer warm waren und die Winter kalt. Wie sie die Landschaft liebten, weil sie zu ihnen gehörte. Weil es die Heimat, die Heimat die sie brauchten, die ihr Kind nur ansatzweise erfahren hatte und vielleicht doch mehr als manch andere. Otto hielt ihre Hand bei den Gesprächen, legte den Kopf an ihre Schulter und fror.
Die Jahre zogen ins Land. Frühling und Herbst. Die blonde, die schöne, die wortgewandte Frau wurde schwächer, wurde blasser, brach zusammen. Krebs nannten die Ärzte das. Nie erholten sie sich davon. Die Frau, die weinte, im Ehebett, die er stützte, als sie zum Wasserturm gingen, die im Dom saß und betete. Die Bescheid wusste, über das Ende. Das Ende das nahte. Otto weinte, weinte vielmehr als die Frau. Fuhr an die Donau mit ihr, zeigte auf die Felder auf der anderen Seite, verstand nicht. Nichts.
Es war Mittwoch und die Frau musste ins Spital. Goss die Blumen ein letztes Mal, sah Otto in die Augen, küsste seine Stirn. Es war Dienstag und die Frau starb. Starb alleine. Otto hat sich das nie verziehen.
Die Monate kamen und gingen. Otto alterte. Alterte in der Wohnung, der Arbeit, alterte im Ehebett, sah an die Decke und sah gar nichts. Otto beschloss wegzuziehen, weiter nach Süden, weg von der Erinnerung, vom Minzgeruch, den vielen Blumen in der Wohnung, die welkten, so schnell. Er kam nicht weit, war zu schwach, sah den Berg und blieb. Wechsel nannten die Leute ihn, er mochte den Namen, mochte, wie er in sein Leben passte. Kaufte ein kleines Holzhaus, sprach nicht mit den Leuten. Nie besuchte er seine Nachbarn und wenn sie vor seiner Tür standen, tat es ihm leid, aber er schickte sie weg, schloss die Tür hinter sich und ging die Treppen hinauf. Langsam, als hätte er es gerade erst gelernt, das sagten zumindest die Leute, die vieles sagten, über diesen seltsam Kauz, der nicht sprach und wohl nicht ganz dicht war. Otto machte das nichts aus, er lag in seinem Bett. Es war schmal und nachts roch er die Minze. Er stellte die Schatulle in sein Nachtkästchen und sah der Sonne zu wie sie hinter dem Wechsel verschwand. Er liebte die Wälder und die steilen Hänge. Er dachte an sich und das blonde Mädchen, wie sie über die Felder gelaufen waren. Sie hätte es geliebt hier, im Süden des Landes.
Es wurde Sommer und Otto fror. Stand am Fenster und hatte vielleicht mehr verstanden als die Leute dachten. Hatte verstanden, dass man nicht davonlaufen konnte, vor der Angst, der Angst vor der Realität. Otto zitterte, er sah die Rosen im Garten, sah die Nachbarin winken, sah die Wolken vorbeiziehen. Er beschloss hineinzugehen, ihren Namen zu wispern und Schinken bei Liese zu kaufen. Otto ging auf die Stiegen zu und fiel. Genickbruch nannten die Ärzte das. Otto fühlte, dass er nach Hause kam.

Freitag, 8. Dezember 2006

Jakob

Weißt du noch Jakob, wie der Lärm langsam weniger wurde? Du hast auch aufgehört zu reden und aus dem Fenster geschaut. Wir hatten uns an den Händen gehalten, die ganze Zeit schon, draussen war es Nacht geworden. Du hast auf deine Unterlippe gebissen, Jakob und mich damit beunruhigt, weil es mich erinnerte an den Moment, als du das schon einmal gemacht hattest, solange bis du geblutet hast. Aber in dem Moment warst du weit weg vom blutig beißen, das habe ich später erkannt, als ich Fotos aus den verschiedenen Sommern verglich. Nicht nur deine Frisur war anders, die Haare länger, strubbeliger, nein, auch dein Gesicht hatte sich verändert. Es war ein wenig ernster geworden, es hatte eine Falte auf der Stirn bekommen, es war vor allem ehrlicher.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, Jakob, in dem Moment als der Lärm weniger wurde und du auch. Ich hab nur deshalb auch geschwiegen, aus der Angst, dass alles noch mehr verschwindet, dass du nie wieder anfangen würdest zu reden. Du hieltst meine Hand plötzlich nicht mehr so fest, ich erinnere mich genau. Ich hab dich angesehen und du hattest deine Augen geschlossen. Es hätte ewig so weitergehen können, nie hätte ich mich zu bewegen gewagt, so lange du selbst stillstandest.
Es blieb mir nichts anderes übrig, dich die ganze Zeit anzustarren, später einmal hast du mich danach gefragt, da war dein Haar wieder kurz geschnitten und die Falte noch tiefer geworden. Ich hab mit der Wahrheit geantwortet und du hast genickt.
Jakob, es war September damals, es war September wie es nie wieder einer sein sollte. Im Sommer zuvor warst du aus dem Zug gestiegen und ich hatte dich willkommen geheißen, wusste, dass du diesmal bleiben würdest. Dass sie gesiegt hatte, endlich gewonnen und dich nicht mehr loslassen würde. Dass du nicht mehr das Weite suchen würdest und damit auch nicht mehr sie. Dass alles am richtigen Platz war nun. Du, Jakob und sie, die Liebe. Die Liebe mit den braunen Locken, die du dir ins Herz gemeißelt hast, das hast du mir einmal erzählt und ich habe gelacht. Ich hab dir eine Tasche abgenommen, da warst du noch nicht mal wirklich aus dem Zug heraußen und deine Hand gedrückt.
Irgendwann, Jakob, da hast du mir einmal die Stirn geküsst, ich glaube, es war einfach aus Verzweiflung und ich habe die Augen geschlossen und nicht gewagt mich zu bewegen. Wie in dem Moment, als der Lärm weniger wurde und du auch. Dass du daran denken würdest, wie ihr euch kennen gelernt habt, wie ihr euch immer weiter kennenlerntet und sicher ward es würde immer so weitergehen. Daran, dass sie weiche Hände hatte und wie sie gesagt hatte, dass Eiszapfen das beste am Winter seien. Warum sie dir das erzählt hat, das wusstest du nicht mehr, als du mir davon berichtestest. Dass das auch nicht wichtig sei, Jakob, hab ich damals geantwortet und dir ein weiteres Glas Wein eingeschenkt. Und du hast deinen Kopf gewiegt und bist aufgesprungen, stehengeblieben und hast zu lachen begonnen.
Wir haben uns immer ohne Worte verstanden, Jakob, ich weiß gar nicht, woher das kam. Ich weiß nur, dass ich dich begehrte, vom ersten Moment an. Das meine ich nicht körperlich, nie wäre mir der Gedanke gekommen, mich zwischen euch zu stellen, nie hätte den Mut gehabt mich dir zu nähern. Ich meine damit nur, dass ich süchtig war nach deinen Worten und deinem Handeln. Dass ich mir nichts anderes vorstellen konnte, als dir stundenlang zuzuhören und dich im selben Zimmer zu wissen. ‚Was wären wir nur anderswo’ , hast du einmal zu mir gesagt. Da war es kalt gewesen und du noch weit weg von dieser Stadt, aber bereits mit der Liebe im Herzen, die dich hierherbringen würde, wo auch ich immer war, wie wir uns gefreut haben, dass alles so kam, wie es kommen musste. Du und die Liebe in der Stadt und du und ich in der selben.
Erinnerst du dich, Jakob, als ich dich nach der Eifersucht gefragt habe und du nur den Kopf geschüttelt hast. Dass es die nicht gibt, dass die Frau die du begehrtest, es verstehen würde, dass es keinen Grund für die Frage gebe, hast du geantwortet und ich habe dir nicht geglaubt oder nicht glauben wollen. Habe von der Wichtigkeit der Emotionen geredet und bald eingesehen, dass ich im Endeffekt doch keine Ahnung davon hatte. Das hast auch du bemerkt und gelacht, mich vor dem Spiegel gezerrt und dort stehenlassen. Ich habe das nie ganz verstanden.
Jakob, Jakob, was waren das für Zeiten. Die Nächte voller Tee und die Tage ohne dich. Sie hatte weiche Haut, hast du mir erzählt und dass sie beim Weinen glucksen würde. Dabei hast du Schlangenlinien in die Luft gezeichnet und mich nicht angesehen. Und mir brannte eine Frage auf den Lippen, die ich doch nie zu stellen getraute.
Bis es irgendwann auch zu spät dafür war, weil der Lärm schon da war und irgenwann nicht mehr und du mit ihm verschwandest, deine Augen leer wurden und du auf die Lippen gebissen hast. Da habe ich dich eben angesehen, die ganze Zeit und ich habe mich immer noch das gleiche gefragt, aber die Zeit in der Frage hatte sich geändert und vor dem Fenster kreischte eine Katze. Das werde ich nie vergessen.
Und dann hast du dich doch wieder bewegt und ich dich immer noch angestarrt. Du hast meine Hand losgelassen und dich an die Wand zwischen den Fenstern gelehnt. „Ist es jetzt vorbei?“ hast du gefragt und ich habe mit den Schultern gezuckt. „Möchtest du etwas trinken?“ habe ich gefragt und keine Antwort erwartet, dich nur weiter angesehen, von oben bis unten, bis zu deinen nackten Füßen, den Zehen die versuchten sich im Boden festzukrallen. Im Nebenzimmer klirrten immer noch die Teller und die Bücher, ja auch die klirrten, fielen schreiend zu Boden und begruben die Liebe unter sich. Sowie die Teekanne, genau hatte ich sie fallen gehört, es war noch etwas Flüssigkeit darin gewesen, ich hoffte, sie hat sich damals nicht verbrannt, Jakob, wirklich, das war es, an das ich denken musste, sobald ich mich auf den Lärm konzentrierte, meinen Blick immer noch auf dir und meine Arme um mich geschlungen, wie du es zuvor machtest.
Und dann, Jakob, ja dann wurde der Lärm weniger und die Stille irgendwie auch, das waren komische Momente und du hast langsam deinen Kopf zur Tür geneigt, die sperrangelweit offen stand und ich begriff, du würdest nicht weinen und sie begriff, dass es Zeit war zu gehen und du begriffst, dass es das Haustor war, das sie zuschlug und bist trotzdem erschrocken.
Eine Nacht war es, wie es immer eine war, mit Tee und den Worten und den Stunden die rannten, warum du mich küsstest, das weiß niemand so recht. Ich konnte dich nicht ansehen danach und du hast mich wieder geküsst, da stand sie schon im Flur und wollte sich anschleichen, dich überraschen und jubeln. Doch es kam anders, denn wir küssten uns ja, Jakob und ich hörte nur ihre Worte und den Lärm der begann, da warst du längst aufgesprungen und hieltst meine Hände immer noch.
Es war die Liebe, die in dieser Nacht starb, es war die eurige, Jakob. Würde ich dir sagen, wie sehr es mir leid tut, wäre es gelogen und ich müsste mich schämen, wie in dieser Nacht, in der sie verlor und du verlorst und ich dazwischen stand, ohne dass es einen Sinn machte.
Ich bin irgendwann eingeschlafen, als es schon ganz leise war. Ich bin irgendwann aufgewacht, da war das Zimmer lichtdurchflutet. Du standest immer noch zwischen den beiden Fenstern. Nie zuvor war mir aufgefallen, wie dunkel der Schatten dort war.

Montag, 27. November 2006

Rita

Weil es schwierig ist, ruft sie mich nocheinmal an. Rita, sage ich und seufze. Da weint sie wieder. Weint und legt den Hörer auf die Seite. Rita, sage ich, alles ist in Ordnung.
Keiner isst Spaghetti so wie Rita, die schlürft und schmatzt dabei und die Sauce für den Schluss aufhebt. Trennkost nennt sie das dann und lächelt ein wenig. Ich lege ihr Servietten neben den Teller und stütze meinen Kopf auf die Hände. Wenn sie fertig gegessen hat, wird sie müde werden und ich werde ihr den Polster aufschütteln und gar nichts sagen. Es ist dann immer Dienstag. Und eigentlich gibt es dafür gar keine Zeit, aber die Zeit, sagt Rita, die ist ihr scheißegal, worüber ich immer den Kopf schüttle und mir auf die Lippe beiße.
Rita träumt oft vom Sommer, der dann doch nie kommt und erzählt mir, sobald sie aufwacht, wo sie baden war und in wen sie sich verliebt hat. Luca, heißt einer ihrer Helden. Irgendwann, so meint sie, wird sie ihn in der Straßenbahn treffen und alle anderen Männer, die ihr doch nur das schwache Herz brechen, wird sie vergessen. Bis dahin besucht Luca sie in ihren Sommerträumen, in denen sie Bananeneis lutscht und keine Schuhe trägt. Bis dahin werden die anderen Männer sie nur anlächeln brauchen, damit sie mit ihnen ausgeht, sich verliebt und früher oder später nicht nur dienstags vor meiner Tür steht und weint, schreit und manchmal ein wenig verzweifelt. Diese Männer nennt sie dann .graue Männer. weil sie ihr die Zeit gestohlen haben, die dann doch nicht mehr scheißegal ist und Rita beißt sich in die Hand, manchmal wird dann alles besser.
Rita liest Rilke, der ihr nicht gut tut und meint, dass er ein Luca für sie wäre, wenn er doch noch leben würde. Sowie Brahms oder Nick Drake. Das findet sie dann selber lächerlich und gibt es nicht zu, wird ein wenig rot und manchmal werfe ich mit der Zeitung nach ihr, was sie dann immer erschrickt, aber nicht zusehr.
Weil sich bei Rita immer alles um die Liebe dreht, aber die sich nicht um sie, ist immer alles ziemlich kompliziert. Die Liste mit den gestrichenen Telefonnummern ist lang, dass sie dort trotzdem noch anruft, gibt sie nicht zu. Dafür sieht sie mich an, nachdem sie geliebt, geweint, getobt und verlassen hat und fragt mich, wann es denn weiter geht bei mir. Was es nicht wird, und was sie genauso gut weiß, wie ich und ich sehe dann zu Boden und sage, sobald alles besser wird. Rita umarmt mich dann manchmal und nichts wird besser, doch vieles gut.
Martin hieß der letzte ihrer grauen Männer. Martin der Hunne, sagte sie immer. Weil er groß und rothaarig war und eigentlich doch Gustav heißen sollte, das hatte sie beschlossen, da kannten sie sich einen Tag. Martin sah ich nur zweimal, was eigentlich recht viel war, im Vergleich zu den anderen grauen Männern. Martin mochte mich nicht. Ich ihn auch nicht. Rita war das aber egal. Sie hatte ihn beim Joggen kennengelernt, wie sie das angestellt hatte, wagte ich nicht zu fragen. Wenn sie von ihm erzählte, fuchtelte sie mit den Händen in der Luft und holte immer tief Luft. Im Sommer segelt er, sagte sie, damit wollte ich doch auch schon immer anfangen. Wolltest du nicht, antwortete ich, aber sowas hörte Rita nie. Die beiden trafen sich 23 Tage lang, dann rief Martin sie an und sagte, dass er so nicht weitermachen könnte und auch nicht anders, jedenfalls nicht mit ihr. Und Rita hat ihn angeschrieen und das Telefon in die Ecke geschmissen, sowas hat sie in den Filmen gelernt. Und es hilft, meint sie, wirklich wahr.
Nachdem Rita, wie ich annehme, ihn doch noch zurückgerufen hat, um ihm zu sagen, wie furchtbar sie ihn nicht schon von Anfang an fand, rief sie mich an. Martin wurde dadurch zur Nummer 23 auf ihrer Liste, nach nur 23 Tagen, dass das nur Zufall wäre, glaubte sie mir nicht. Und wie sie schluchzte und mir erzählte in allen nur möglichen Ausschmückungen, wie er ihr das Herz gebrochen hatte. Wie sie schrie und bebte und ihre Stimme zitterte. Und wie ich schwieg die ganze Zeit hindurch, nur manchmal schaffte ich es zu einem ssshhh, was Rita aber nicht beruhigte und Martin wurde noch einmal zu dem Tollsten was ihr jemals passiert ernannt. Rita weinte dann wieder und alles wurde noch komplizierter. Völlig unerwartet, wie auch bei all den anderen Gesprächen dieser Art, bei denen sie immer leidet, als gäbe es kein Morgen, legte Rita dann auf. Um nocheinmal anzurufen, da doch alles schwierig ist. Und ich flüstere ihren Namen und sage, dass alles in Ordnung ist.
Das wird Rita aber nie verstehen, dass mit der Ordnung, schon gar nicht was ihre Gefühle angeht.
Es ist nie mittwochs, wenn sowas passiert, sagte sie einmal, als sie wieder Spaghetti aß. Und weißt du wieso, fragte sie. Nein. antwortete ich und nahm ihre Hand. Weil sie Angst vor Luca haben, sagte sie und lächelte. Und ich drückte ihre Hand ein wenig fester und reichte ihr Spaghetti nach.

~~~

Rita II

Rita trommelt mit ihren Händen auf die Oberschenkel. Verdammt nochmal, sagt sie und dass das doch so nicht geht. In dem Moment drehe ich mich zu ihr um. Rita weint wieder. Rita weint viel zu viel. Rita, sage ich, jetzt hör mal zu, so geht das nicht. Nicht mit dir und nicht mit uns. Lass es gut sein, Mädchen, ja? Und Rita schüttelt den Kopf, schluchzt, ist unglaublich theatralisch.
Wir sitzen im Park und es wird Frühling. Rita wollte Enten füttern und Frauen mit Kinderwägen sehen. Ich wollte die Sonne genießen, Ritas Hand nehmen und über Kies laufen. Der Schnee ist so gut wie weg, ihre Schuhe dennoch zu gewagt, weswegen wir doch nicht gelaufen sind, sie nicht und ich schon gar nicht. Weil das nicht geht, alleine über die Kieswege laufen und wissen, dass man wenn man stehenbleibt auf jemanden warten muss. Dann hat das keinen Sinn. Und Schuld sind die blöden Schuhe. Das wollte ich ihr alles sagen, doch Rita fängt wieder an zu weinen, weil die Enten zu einer alten Frau schwimmen und die Frauen so glücklich erscheinen, mit den Babys im Arm. Weil Rita ein Tintenherz am Unterarm hat und es verblasst, ohne dass er angerufen hat.
Das Tintenherz, um das außenrum gewaschen wird, weil er es so wollte und sich dennoch nicht meldet, seit drei Tagen. Und Rita die stolz ist, so stolz und ihn beschimpft und schreit, schreit und schimpft wie keine Zweite. Und ich kenne niemanden, der sich das sonst leisten könnte, ohne nicht vollkommen verrückt zu erscheinen.
Denn Rita erscheint immer nur wie sie selbst. Und das ist wohl das Problem. Auch in diesem Moment, in dem wir auf der Bank sitzen und nicht genügend Enten Ritas Brotkrumen toll finden und sie die dummen Tauben doch hasst und auch ein Kind haben will und nicht einsieht, dass sie doch selber noch viel zu viel Kind dafür ist.
Er hat noch 13 Stunden. Dann werd ich ihn vergessen. Und das Tintenherz auch. murmelt sie, dieses Scheißarschloch, ist doch wie alle anderen auch. Und ich denke an Ernst Jandl und sein Falken und Tauben Gedicht und ich erzähle es Rita, aber sie lacht nicht und mir reicht es langsam.
Rita, sage ich nochmal, das geht so nicht. Nicht mit deinem Weinen und deiner Verletzlichkeit. Ich ertrage das nicht mehr und du noch viel weniger. Aber Rita schweigt, weint wenigstens nicht mehr und blickt auf den Teich. Und ich versuche ihr zu erklären, dass Enten doch sowieso dumm sind und wir das nächste Mal nach Möwen und Schwänen suchen werden und dass Tintenherzen niemanden was bringen, dass sie die Seife nehmen soll und weg damit. Danach sitzen wir beide schweigend da.
Es sind 8 Mütter die an uns vorbeiziehen und ich sehe Rita bei jeder an und weiß genau, dass sie überlegt, wie die Kinder heißen könnten. Und ich weiß ebenso genau, dass sie die Jungen doch immer nur Luca und die Mädchen Merle nennt. Was Blödsinn ist, denn niemand heißt hier so. Und es ist Frühling, denke ich mir und nehme wieder Ritas Hand, sie wehrt sich nicht und blickt zu Boden.
Kurz danach springt Rita auf, lauft davon, versucht es zumindest und ich lasse das geschehen, nehme ihr Brotkrumensackerl und stehe erst auf, als ich sie nicht mehr sehe.
Ich schreibe ihr einen Brief als ich zuhause ankomme. Er handelt vom über den Kies rennen und vom Prioritäten setzen. Er ist selbstgerecht und unüberlegt. Ich finde in dem Moment, dass das zu ihr passt. Ich finde mich lächerlich, sobald ich ihn in den Briefkasten geworfen haben.
Rita wird ihn nie erwähnen.

Dienstag, 7. November 2006

Wein doch nicht

Als wir die Treppen hinunterliefen und du sagtest, dass es egal wäre. Als ich aus dem Fenster blickte und der Himmel grau war. Als du mich angerufen hast und gar nicht geschrieen hast. Als P. meine Hände nahm und den Kopf so lange schüttelte bis ich Angst bekam. Als meine Schuhe naß wurden und du die Tür nicht geöffnet hast. Als wir die Treppen hinunterliefen und du an jedem Absatz stehenbliebst.
Als der Postkasten voller Briefe war. Als die Milch kalt wurde, weil niemand mehr Kakao wollte. Als N. dich ansah und mit den Schultern zuckte. Als ich danebensaß. Als der Wind wehte und du mit dem Rad davonfuhrst. Als wir uns wiedergetroffen haben. Als der Mann an der Kassa uns anlächelte. Als ich nicht von dir träumte, in der Nacht. Als wir die Treppen hinunterliefen und ich beinahe stolperte.
Als sie sagte, dass das absehbar war. Als du sagtest, du willst nicht verletzt werden. Als ich sagte, es sollte bald schneien. Als dein Fahrrad gestohlen wurde. Als du viel geflucht hast. Als ich nicht da war. Als ich dir den Schlüssel zurückgab. Als P. versuchte irgendwas zu retten. Als du nicht mehr am Bahnhof auf mich gewartet hast. Als ich dich um eine Zigarette fragte. Als wir die Treppen hinunterliefen und uns nicht an den Händen hielten.
Als du alleine aufgewacht bist. Als ich einen Pullover von dir in der Wäsche fand. Als du wegziehen wolltest. Als ich dir nicht geantwortet habe. Als du zu Boden geblickt und geschluchzt hast. Als ich dich nicht trösten wollte. Als es besser gewesen wäre, nicht da zu sein. Als ich zuviel trank und zuviel tanzte. Als du an der Bar gestanden bist und mich nicht angesehen hast. Als wir die Treppen hinunterliefen und du nur jede zweite Stufe nahmst.
Als ich alleine einschlief. Als es gar nicht mehr so schlimm war. Als du mir ins Gesicht schlugst. Als N. sagte, dass das richtig wäre. Als ich dich treffen wollte. Als wir von der Sintflut sprachen. Als du die graue Haube trugst, die dir zu groß war. Als ich ein wenig Angst hatte. Als alles ausgesprochen war. Als deine Augen blau waren, so blau. Als du auf deine Lippe gebissen hast. Als ich an jemand anders dachte. Als du zu Tür gegangen bist. Als ich dich ansah, viel zu lange. Als du die Treppen hinunterliefst. Als ich aufsprang um dich einzuholen. Als wir die Treppen hinunterliefen und ich sagte .wein doch nicht.

Dienstag, 17. Oktober 2006

Männer weinen nicht, Marie

Verstehst du Marie, es ist egal welchen Pullover du trägst. Den grünen oder den gelben, egal ob den vom ersten Treffen oder vom letzten. Strick dein Hemd ein Marie, das sieht besser aus und vergiss nicht den Schlüssel umzudrehen, wenn du aus der Wohnung gehst.
Es hat geregnet Marie, dicke Tropfen, nimm den Schirm mit und spann ihn auf, die nassen Haare, du weißt doch wie dumm das aussieht bei dir. Pass auf die großen Lacken auf, da vor der Ubahnstation. Hüpf nicht herum wie ein Mädchen, das bist du doch lang nicht mehr.
Zieh den Rock ruhig an, wenn du möchtest Marie, aber lass dir sagen, es macht keinen Unterschied. Zupf nicht zu oft am Unterrock herum und mach keine zu großen Schritte wenn du die Ballerinas trägst. Vergiss nicht eine Fahrkarte zu kaufen, schwarzfahren ist nicht deine Stärke. Du siehst zu auffällig aus den Fenstern, du springst zu schnell auf, du errötest, wenn du lügst.
Da sind noch Brotkrumen an deinem Mundwinkel, Marie. Mach sie weg, schnell, das schickt sich nicht. Schmink dir deinen Erdbeermund, auch wenn er einsam bleibt heut Nacht. Denn das wird er bestimmt, da hilft auch das neue Parfum nichts, auch nicht das alte. Und keine Blumen ins Haar, nein Marie, das hat keinen Sinn.
Pass auf, dass du die Stationen nicht verwechselst, Marie. Lauf ruhig die Rolltreppen hoch, der süßliche Schweißgeruch wird heute keinen stören, beiß nur an deinen Fingernägeln herum, trag die Strumpfhose mit der kleinen Laufmasche am Oberschenkel, mach nur Marie, mach.
Um zehn ist es dunkel, Marie. Vergiss das nicht, wenn du zu Fuß nach Hause gehen möchtest. Du fürchtest dich doch vor den dunklen Gestalten in den Ecken. Deine Schuhe klappern, man hört dich schon von weiten. Ja, von weiten wird er dich hören, das ist kein Vorteil, das ist kein Nachteil.
Mach dir nicht soviel Gedanken, Marie. Sieh ihm ins Gesicht. Nimm Taschentücher mit, aber bitte verwende sie nicht, lass es nicht so weit kommen. Das wäre nicht richtig. Du wärst nicht richtig. Sein Buch gib ihm gleich heute zurück, du wirst es ja doch nicht mehr lesen. Lass keine Zettel darin verschwinden. Behalt die Hoffnung dort wo sie hingehört, aufs allerletzte Blatt.
Lass deinen Walkman zuhause, Marie. Du hörst doch sowieso die falsche Musik an den falschen Momenten. Daraus lernst du wohl nie. Trink dein Getränk rasch, zahle es selber. Berühr nicht sein Bein unter dem Tisch. Schweige mehr, als du redest. Deine Haarspange wird verrutschen, wenn du sie so trägst, du wirst schon sehen.
Es ist Sommer, das weißt du, Marie. Es wird der letzte Sommer zwischen euch sein und selbst der ist schon vorbei. Wein nicht schon wieder Marie, dann siehst du immer so krank aus. Verabschiede dich höflich von ihm. Verzeih ihm seine versteinerte Miene.
Weißt du noch, Marie, damals, da sah er genau so drein. Auch wenn du es nicht mehr wissen willst. Du hattest rot lackierte Fingernägel an dem Abend. Das Kleid war dir zu groß, es sah ein wenig ungeschickt aus. Aber du hörst ja nie auf einen. Siehst du, jetzt hast du schon wieder zuviel Rouge genommen, Marie, es nützt doch nichts.
Es war zuviel Wein und es war die laue Nacht, hast du gesagt Marie. Es war das falsche Bett in dem du aufgewacht bist, hast du bemerkt, da lag dein Kleid längst am Boden und die Schuhe gleich daneben. Und der Mann neben dir, der nackt war wie du, der schlief noch. Du hast seinen Rücken geküsst, bevor du gegangen bist, erinnerst du dich?
Nur weil er nicht geschrien hat, als du es ihm am nächsten Tag erzähltest, Marie, nur weil er dich nicht wegscheuchte, heißt das nicht, heißt das gar nichts. Schmink deine Augen nicht zu sehr, Marie, es wird verrinnen, du weißt das genauso wie jeder andere. Sag nicht, dass es auch seine Schuld war, das es soweit gekommen ist. Es wäre eine Lüge.
Lass es gut sein, Marie. Er nimmt dich nicht zurück. Er wird dich nicht umarmen. Nichts wird wieder so wie damals. Die Schuhe die du trägst sind dir ein wenig zu groß, vergiss das nicht, wenn du davon laufen möchtest. Spiel nicht zuviel Theater, so gut du es auch kannst. Er wird nicht mitspielen. Beiß nicht auf deinen Haarspitzen herum. Schrei ihn nicht an. Er wird nicht sagen, dass er dich vermisst.
Männer weinen nicht, Marie.

Bitterschokolade

Das ist pervers. Sage ich. Das ist einfach eklig. Du nickst und brichst dir eine weitere Rippe von der Bitterschokolade ab.
Schokolade ist nicht dafür gemacht bitter zu sein, das widerspricht ihrer Natur. Ihrer Bestimmung. Scheiße nochmal. Bitterschokolade. Das ist pervers.
Deine Augen sind müde, als du aufblickst. Du sagst kein Wort. Isst ein weiteres Stück. Dabei hast du deine rechte Hand in der Hosentasche. Das sollte wohl cool aussehen, tut es aber nicht. Es sieht dämlich aus. Sowie Bitterschokolade. Das ist mir einfach zuviel.
Scheiße, verdammt wenn du schon diese Scheißschokolade essen musst, dann nimm wenigstens deine Hand aus der Hosentasche.
Du siehst mich immer noch an. Schweigst. Ich schmeiße mit dem Geschirrtuch nach dir und laufe aus der Küche.
Vor vier Monaten haben wir uns kennengelernt. Vier. Einer mehr und wir haben eine Hand. Hast du gestern gesagt. Und ich habe gelacht und meine Füße auf deine Schultern gestellt. Ich saß am Fensterbrett und es regnete. Mit einer Hand kommen wir aber nicht weit. Sagte ich. Da hast du wieder geschwiegen.
Wenn du schweigst fängt dein linkes Auge nach einer Zeit zum Zucken an. Das macht mich nervös. Dann könnte ich dich wieder anschreien, dass du sofort damit aufhören sollst, so wie mit dieser Bitterschokolade, die mittlerweile die Speisekammer angefüllt hat. Dann könnte ich mit meinen kleinen Händen auf deinen Rücken trommeln und zu weinen anfangen, zu wimmern. Bist du aufstehst und gehst. Und alles ruhig ist. Bewegungslos.
Eine Hand ist nichtmal ein ganzer Mensch. Hast du dann gemurmelt. Rechtzeitig. Damit kann man nicht mal einen Schuh zubinden oder jemanden umarmen.
Ich habe meine Füße auf deinen Kopf gestellt und gesagt, man kann auch keine Bitterschokoladenpackung öffnen. Daraufhin hast du den Kopf geschüttelt, deine Hände auf meine Füße auf deinem Kopf gelegt, mich angesehen und gelächelt.
Ich meine das ernst, habe ich gesagt und du meintest nur – ich weiß.
Heute laufe ich ins Badezimmer, schmeiße die Türen hinter mir zu und sämtliche Sachen vom Schrank, fange an zu wimmern. Ich schlinge Handtücher um meine nackten Füße, sie wärmen nicht. Ich lasse Wasser über mein Gesicht laufen, es reinigt nicht. Ich beiße mir in den Arm, er blutet nicht.
Dann höre ich die Haustür zuschlagen. Du bist gegangen. Wiedermal. Es war auch Zeit. Ich laufe zurück in die Küche, reiße die Speisekammertüre auf und nehme soviele Bitterschokoladentafeln auf einmal, wie ich nur tragen kann. Lasse sie auf den Küchenboden fallen. Trample darauf herum. Bitterschokolade. Ich kann es nicht glauben.
Was magst du. Habe ich dich gefragt, als wir zum ersten Mal ausgingen. Bitterschokolade, war deine Antwort. Da habe ich gelacht und dir nicht geglaubt. Weil kein vernünftiger Mensch Bitterschokolade mag. Ich hasse Bitterschokolade, sagte ich. Da hast du nur den Kopf geschüttelt. Bitterschokolade ist das Schlimmste auf der Welt. Sagte ich dann. Bitterschokolade ist das Schönste auf der Welt. Hast du geflüstert. Würdest du sie für mich aufgeben, fragte ich. Da hast du geschwiegen.
Ich trample solange darauf herum bis meine Füße schmerzen. Bis ich zu keuchen anfange. Dann stelle ich einen Topf auf den Herd und werfe nach der Butter eine Stück Bitterschokolade nach dem anderen hinein. Dann noch einen Topf und noch einen und noch einen. Die Bitterschokolade schmilzt unter meinen Augen davon, mit ihr dein zuckendes Auge, dein Schweigen. Dein Schweigen. Mit ihr mein Hass auf dich, meine Liebe für dich, meine Angst, meine Schmerzen.
Die Tasche war rotblau kariert, welche du bei dir hattest, als du eingezogen bist und unheimlich schwer. Das ist alles was ich habe. Sagtest du. Da hab ich den Kopf geschüttelt und sie geöffnet. Sie war bis oben hin voll mit Bitterschokolade. Du hattest sie in ein paar Hosen, zwei Paar Unterhosen, drei T.shirts und einige Socken eingewickelt. Scheiße nochmal, hab ich gerufen und die Tasche vom Bett geschmissen. So geht das nicht. Bitterschokolade. Keine Bitterschokolade in meinen Haus. Da hast du wieder geschwiegen, die Tasche ins Eck gestellt, dich aufs Bett gelegt und bist eingeschlafen. Das dauerte nicht lange, das hat mich beruhigt. Da Menschen die schnell einschlafen zu den leichten gehören, bei denen der Boden nicht knarzt wenn sie gehen und die die Türe hinter sich schließen. Du bist aufgewacht, nach wenigen Minuten, hast meinen Kopf in deinen Hände genommen und mir . Dann gibt es mich auch nicht in deinem Haus. ins Ohr geflüstert.
Das alles schmilzt dahin. Genauso wie deine Angewohnheit die Türe laut ins Schloss fallen zu lassen oder am Telefon nicht abzuheben. Es schmilzt dahin, wie die Erinnerung an deine weichen Hände oder mein Schreien, wenn dein Mund wieder nach Bitterschokolade schmeckte. Wofür ich dich hasste. Und du mich.
Die Bitterschokolade nahm die halbe Speisekammer ein. Ich baute Trennwände zwischen meinen Lebensmitteln und deiner Bitterschokolade auf. Mir wurde übel, wenn ich mit nüchternen Magen in die Küche tapste. Du hast dazu gelächelt, gesagt, dass ich übertreibe. Da bin ich aus dem Zimmer gerannt und hab die Wände vollgeschmiert mit Hasstiraden auf diese schwarzen Tafeln, mit Versuchen dich zur Vernunft zu bringen. Mit Angst die unter den Nägeln brannte. Mit einem Wort und manchmal zwei. Mit dem Schweigen das ich nicht in Worte fassen konnte. Und du hast Türen zugeworfen und meine Stifte aus dem Fenster. Bist gegangen und wiedergekommen. Hast geschwiegen und ich habe geweint.
Ich höre deinen Schlüssel in der Türe, als der Inhalt des vierten Topfes beinahe vollständig geschmolzen ist. Ich halte inne. Nehme den ersten Topf vom Herd. Höre deine Schritte. Als die Küchentür sich öffnet sehe ich dich an. Schweige. Du auch. Ich hebe den Topf und schütte mir die Schokolade über den Kopf. Da beginnst du zu weinen. Blickst zum Herd. Schreist. Greifst in die Töpfe. Schreist. Weinst. Hasst mich. Ich schweige. Betrachte jede deiner Bewegungen. Fühle meinen Schmerz in dir.
Liebe dich. Bitter.

Das Bild vom toten Kind

Das Bild vom toten Kind hängt im Stiegenhaus. Es lächelt hämisch. Julius hat es die Mutter damals genannt. Nach Caesar, sagt sie immer. Nach dem eigentlichen Vater, sagen die anderen. Halten sich Zeitungen vors Gesicht und schütteln ihre Köpfe.
Die Mutter wischt einmal die Woche mit einem nassen Lappen über das Bild. Lächelt ein wenig. Küsst manchmal die Stirn des Kindes. Dabei sieht nie jemand her. Sie ist sich gewiss. Sie lächelt dabei und nennt es .mein kleines Kind. Dass wird es immer bleiben, das weiß sie genau.
Am Morgen rennen die anderen Kinder daran vorbei, schubsen sich. Die Schultaschen prallen an die engen Wände. Manchmal fällt das tote Kind dabei herunter. Die Mutter schreit dann meistens und holt keinen von der Schule ab. Versteht ihr nicht? fragt sie. Und alle verneinen. Schütteln ihre kleinen Köpfe, während sie das Bild wieder aufhängt. Vom Kind mit dem hämischen Lachen, von dem keiner mehr erfahren wird, was passiert ist. Was die Kinder nicht stört, noch nicht, denn sie rennen weiter, aus dem Haus, wo sie sich anrempeln können und keiner mehr an das Kind denken wird. Das viel länger tot ist, als sie leben. Von dem man sagt, es sei ihr Bruder. Doch Brüder lachen nicht bloß von der Wand, und noch dazu so seltsam, das wissen sie genau.
Kein Engel am Grab des toten Kindes. Das ist nicht nötig, sagte die Mutter, weinte ein wenig, pflanzte einen Fliederbusch. Davon kein Bild im Stiegenhaus. Das ist ebenso nicht nötig. Im November nimmt sie ihre Kinder, die immer größer werden, mit auf den Friedhof. Seid ein wenig still, sagt sie zu ihnen, hier liegt das tote Kind. Und sie stellen sich vor, wie man damals das Foto begraben hat und keiner versteht, was die Stille soll. Und der Ort hier und das tote Kind. Es reicht doch dort im Stiegenhaus.
Als das Kind starb, war die Mutter eigentlich immer noch zu jung, um ernsthaft an Kinder zu denken. Das war auch Schuld, sagen die anderen, die immer alles besser wissen. Die es kommen sahen, dass sowas nie gut geht. Auf die aber nie wer hört, und wenn dann zu spät.
Nur als das Kind auf die Fensterbank kletterte, als die Mutter nicht hinsah, als das Kind sich zu weit hinausbeugte, als die Mutter immer noch nicht hinsah, als das Kind fiel, als die Mutter das Kind suchte, als das Kind tot im Rasen lag, als die Mutter schrie, so laut, da wussten sie nichts mehr besser, schüttelten trotzdem die Köpfe, hinter schwarzen Sonnenbrillen und küssten den Sarg. Das hat ihnen die Mutter nie verziehen, das hat auch keinen Sinn mehr.
Niemand nennt es mehr beim Namen, das tote Kind. Es lächelt trotzdem von der Wand, hat wohl selber vergessen wie es heißt, warum es nicht mehr wächst und die Mutter meistens wegsieht, wenn sie an ihm vorbeigeht. Es ist dem Kind auch egal. Sowie das Leben und der Tod und die Geschwister die es nie kennenlernen wird. Bloß wird das die Mutter nie verstehen und die Kinder, die mit ihren Schultaschen an der Wand entlangschlittern, viel zu früh.
Das Bild des toten Kind hängt im Stiegenhaus, zehn Treppen vom Erdgeschoß entfernt und drei von dem darüber. Ich glaube an den Himmel, sagte die Mutter damals laut vor sich hin, als sie den Nagel in die Wand schlug, nahm dann das Bild aus dem Karton und war in der Hölle.

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