Ich habe Hotzenplotz vergessen
Als Oma Sofi noch lebte, war sie lange Zeit die einzige Person die mich küssen durfte. Auf die linke Wange, auf die rechte Wange und wenn sie wollte sogar auf den Mund. Oma Sofi roch dabei nach frischgemähtem Rasen und Bratenfett, das merkte man jedoch nur, wenn man seine Arme fest um sie schlang und dabei tief einatmete.
Ich weiß nicht, warum mir das einfiel, heute früh, nachdem ich seltsame Dinge über meine Mutter geträumt hatte, über abfahrende Busse und gekachelte Böden. Aber ich vermisste sie. Vermisste in diesem Moment ihre Begrüßungsküsse, ihre Hand auf meinem Haar und die andere auf meiner Schulter.
Ich vermisse viel in den letzten Tagen, den letzten Wochen, in den Nächten in denen ich nicht einschlafen kann und an den Tagen, an den ich nicht aufwache. Ich fühle mich unberührbar, es bringt mich zum weinen. Ich überlege, ob ich jemals wieder soviel geweint habe, wie damals am Grab von Oma Sofi. Der halbe Ort war gekommen, sie schüttelten den Kopf, die alten Leute und Tante Anna sagte, dass sie an Sofis Stelle sein sollte, mit ihren 15 Lenzen mehr, mit den kaputten Beinen und den kaputten Nieren. Aber Tante Anna lebte weiter, ganze drei Jahre noch. Ich glaube, es waren die einsamsten in ihrem Leben.
Der Tag heute ist bewölkt, ich wollte mein grünes Kleid anziehen, ich hätte sogar unsinnige Ausflüge in botanische Gärten unternommen, nur um mit dem grünen Kleid rauszugehen, aber es ist zu kalt vor dem Fenster. Dem Fenster, das jetzt nachts immer geschlossen bleibt, aus nicht vorhandenen Gründen, ich schlafe dadurch nicht besser und ich wache nicht besser auf. Im Prinzip ist es egal, die Sache mit dem Fenster.
Die Krähen sind vom Hinterdach verschwunden, zu schnell um mit ihnen Freundschaft zu schließen, dafür verliebte ich mich augenblicklich in die Fledermaus im Hauseingang, ich denke bloß, es ist eine sehr einseitige Liebe.
Das war wohl auch Oma Sofi, die mich mit ihrer unendlichen Gütigkeit lehrte, soviele Dinge zu lieben, so schnell zu lieben und wieder zu vergessen, nie ganz, aber zumindest so sehr, dass sie nicht schmerzten, wenn sie ein wenig verschwanden. Häng dein Herz nicht an Dinge, hat mal jemand gesagt. Aber dazu war es immer schon zu spät, mein Herz ist verkettet mit sovielen, dass ich ihm manchmal zuflüstern muss, dass es still sein soll, dass es sich nicht im Kreis drehen soll, um keine Knoten in die Ketten zu machen.
Von diesen Problemen hat mir Oma Sofi nie erzählt, mich nicht gewarnt, als sie über ihre Rosen strich und die Fotos an der Wand zurechtrückte. Als sie starb hatte sie uns alle im Auge, ebenso wie ihre geliebten Weinberge. Vater und seine Brüder würden nur wenige Jahre später alles verkauft haben und ich würde meinen Eltern Vorwürfe machen, dass sie alles kaputt machen und wissen, dass es das eigentlich immer schon war. Als Oma Sofi starb schloss ich mich in ihr Schlafzimmer ein und durchwühlte die Schubladen, suchte etwas zum festhalten und fand ein Tagebuch. Ich steckte es in die Hosentasche und hab es nie ganz gelesen. Ich wüsste nicht wieso.
Ich wüsste auch nicht, was ich ändern kann, an dem Gefühl, dass die ersten Herbsttage mit sich bringen. Ich fühle mich wie ein fallendes Blatt, ohne pathetisch klingen zu wollen, es ist einfach so. Ich sehne mich nach Zuckerwatte und Kastaniensammeln, ich sehne mich nach allem, auf das ich noch warten muss. Nur hab ich das nie gelernt. Meine Wörter fallen zu Boden, sie kommen nirgends an, ich weiß, dass das nicht stimmt, ich senke dennoch meinen Kopf um sie zu suchen, sie wegzuwischen oder aufzuheben. Sie sind bloß nicht mehr da.
Als Sofi noch lebte und Großvater ebenso, waren um diese Zeit die Tage der Weinlese nicht mehr weit und wir Kinder freuten uns darauf, wie Erwachsene behandelt zu werden und tagelang durch die Rebenreihen zu laufen und Trauben zu ernten. Abends waren unsere Hände dreckig, die Gesichter verschmiert und die Haare klebten an den Köpfen. Sofi hatte zuhause ein Festessen für 30 Leute gekocht und später schlug ich mit meiner Cousine Räder im Garten. Es war eine Zufriedenheit, die diese Tage durchströmte, ich kann mich nicht erinnern, sie noch einmal erlebt zu haben.
All das ging mir durch den Kopf heute früh, vielleicht ein wenig weniger, aber ich fragte mich, wo es all die Jahre die vergangen sind verblieben ist. Als ich aufstand fiel mein Blick in das Regal, aus irgendeinem Grund bilde ich mir immer wieder ein, das Buch .Der Räuber Hotzenplotz. zu besitzen. und ich erinnerte mich, dass Oma Sofi es mir einmal schenken wollte und ich es nicht haben wollte. Stattdessen bekam ich ein Buch mit 366 Einschlafgeschichten. An meinem Geburtstag war immer die Geschichte vom Trotzkopf dran. Meine Mutter erzählte das einmal Oma Sofi. Sie haben beide sehr gelacht.
Ich weiß nicht, warum mir das einfiel, heute früh, nachdem ich seltsame Dinge über meine Mutter geträumt hatte, über abfahrende Busse und gekachelte Böden. Aber ich vermisste sie. Vermisste in diesem Moment ihre Begrüßungsküsse, ihre Hand auf meinem Haar und die andere auf meiner Schulter.
Ich vermisse viel in den letzten Tagen, den letzten Wochen, in den Nächten in denen ich nicht einschlafen kann und an den Tagen, an den ich nicht aufwache. Ich fühle mich unberührbar, es bringt mich zum weinen. Ich überlege, ob ich jemals wieder soviel geweint habe, wie damals am Grab von Oma Sofi. Der halbe Ort war gekommen, sie schüttelten den Kopf, die alten Leute und Tante Anna sagte, dass sie an Sofis Stelle sein sollte, mit ihren 15 Lenzen mehr, mit den kaputten Beinen und den kaputten Nieren. Aber Tante Anna lebte weiter, ganze drei Jahre noch. Ich glaube, es waren die einsamsten in ihrem Leben.
Der Tag heute ist bewölkt, ich wollte mein grünes Kleid anziehen, ich hätte sogar unsinnige Ausflüge in botanische Gärten unternommen, nur um mit dem grünen Kleid rauszugehen, aber es ist zu kalt vor dem Fenster. Dem Fenster, das jetzt nachts immer geschlossen bleibt, aus nicht vorhandenen Gründen, ich schlafe dadurch nicht besser und ich wache nicht besser auf. Im Prinzip ist es egal, die Sache mit dem Fenster.
Die Krähen sind vom Hinterdach verschwunden, zu schnell um mit ihnen Freundschaft zu schließen, dafür verliebte ich mich augenblicklich in die Fledermaus im Hauseingang, ich denke bloß, es ist eine sehr einseitige Liebe.
Das war wohl auch Oma Sofi, die mich mit ihrer unendlichen Gütigkeit lehrte, soviele Dinge zu lieben, so schnell zu lieben und wieder zu vergessen, nie ganz, aber zumindest so sehr, dass sie nicht schmerzten, wenn sie ein wenig verschwanden. Häng dein Herz nicht an Dinge, hat mal jemand gesagt. Aber dazu war es immer schon zu spät, mein Herz ist verkettet mit sovielen, dass ich ihm manchmal zuflüstern muss, dass es still sein soll, dass es sich nicht im Kreis drehen soll, um keine Knoten in die Ketten zu machen.
Von diesen Problemen hat mir Oma Sofi nie erzählt, mich nicht gewarnt, als sie über ihre Rosen strich und die Fotos an der Wand zurechtrückte. Als sie starb hatte sie uns alle im Auge, ebenso wie ihre geliebten Weinberge. Vater und seine Brüder würden nur wenige Jahre später alles verkauft haben und ich würde meinen Eltern Vorwürfe machen, dass sie alles kaputt machen und wissen, dass es das eigentlich immer schon war. Als Oma Sofi starb schloss ich mich in ihr Schlafzimmer ein und durchwühlte die Schubladen, suchte etwas zum festhalten und fand ein Tagebuch. Ich steckte es in die Hosentasche und hab es nie ganz gelesen. Ich wüsste nicht wieso.
Ich wüsste auch nicht, was ich ändern kann, an dem Gefühl, dass die ersten Herbsttage mit sich bringen. Ich fühle mich wie ein fallendes Blatt, ohne pathetisch klingen zu wollen, es ist einfach so. Ich sehne mich nach Zuckerwatte und Kastaniensammeln, ich sehne mich nach allem, auf das ich noch warten muss. Nur hab ich das nie gelernt. Meine Wörter fallen zu Boden, sie kommen nirgends an, ich weiß, dass das nicht stimmt, ich senke dennoch meinen Kopf um sie zu suchen, sie wegzuwischen oder aufzuheben. Sie sind bloß nicht mehr da.
Als Sofi noch lebte und Großvater ebenso, waren um diese Zeit die Tage der Weinlese nicht mehr weit und wir Kinder freuten uns darauf, wie Erwachsene behandelt zu werden und tagelang durch die Rebenreihen zu laufen und Trauben zu ernten. Abends waren unsere Hände dreckig, die Gesichter verschmiert und die Haare klebten an den Köpfen. Sofi hatte zuhause ein Festessen für 30 Leute gekocht und später schlug ich mit meiner Cousine Räder im Garten. Es war eine Zufriedenheit, die diese Tage durchströmte, ich kann mich nicht erinnern, sie noch einmal erlebt zu haben.
All das ging mir durch den Kopf heute früh, vielleicht ein wenig weniger, aber ich fragte mich, wo es all die Jahre die vergangen sind verblieben ist. Als ich aufstand fiel mein Blick in das Regal, aus irgendeinem Grund bilde ich mir immer wieder ein, das Buch .Der Räuber Hotzenplotz. zu besitzen. und ich erinnerte mich, dass Oma Sofi es mir einmal schenken wollte und ich es nicht haben wollte. Stattdessen bekam ich ein Buch mit 366 Einschlafgeschichten. An meinem Geburtstag war immer die Geschichte vom Trotzkopf dran. Meine Mutter erzählte das einmal Oma Sofi. Sie haben beide sehr gelacht.
fruktose - 29. Nov, 21:57