Dienstag, 17. Oktober 2006

Jule und Gerhard

Jule und Gerhard spielen kein Fußball mehr. Seit Monaten schon nicht , sagen sie, wenn man sie danach fragt. Der Rasen will geschont werden. Die Straßen sind so oft nass. Die Schuhe haben Löcher. Der Ball gehört geflickt. Sagen sie auch.
Stattdessen sitzen sie viel in ihrer kleinen Küche, blicken beim Fenster hinaus und trinken Tee. Meist ist dieser grün, den schwarz haben sie sich verboten, danach sollte man aber nicht fragen. Jule trägt bunte Röcke, sie dreht sich oft im Kreis und lacht ein wenig schief, dabei sitzt sie dann nicht am Fenster und Gerhard macht manchmal ein Foto von ihr, ein Polaroid, irgendwann, meint er, werden all die Bilder eine Tapete ergeben. Eine Juletapete in einem Julezimmer, so stellt er sich das vor.
Man kann sie vom Hof aus sehen, wie sie am Fenster sitzen, man kann ihnen zu winken, man kann zu ihnen hinaufschreien, sie bemerken es meist nicht.
Wann das mit dem Fußball spielen angefangen hat, weiß keiner mehr so recht. Angeblich war es Jule, die im Hof in der Sonne lag und Dostojewski las, was ihr nie gut tat, die schrie, als sie der Ball traf, wahrscheinlich nur aus Verwunderung, weil sie nicht wusste, woher er kam. Angeblich war es Gerhard, der Jule da liegen sah, mit einem dicken Buch, der den Ball im Hauseingang fand und ihn nach ihr warf. Angeblich war es umgekehrt. Fest steht jedenfalls, dass Jule den Ball zurückschoss und Gerhard es ihr gleichtat, dass sie damit Stunden zubrachten und abends müde ins Bett fielen. Da die beiden seit Monaten nicht mehr mit einer solchen Müdigkeit schlafen gegangen waren, da daraufhin der beste Schlaf seit langem folgte, da sie begeistert waren vom Fußball, vom Wetter, vielleicht auch von sich selbst, beschlossen sie damit nicht mehr aufzuhören, nie mehr. Es sei denn, es gäbe einen Grund dafür.
Es ging nicht ums Gewinnen, bei dem Spiel und auch nicht ums Verlieren. Stattdessen mochte Jule es ins Schwitzen zu kommen und Gerhard die Tatsache immer ein wenig geschickter zu erscheinen, als sie.
Die anderen Hausbewohner gewöhnten sich schnell an sie. Kamen von der Arbeit heim und kickten zweimal kurz mit, lachten ein wenig, vielleicht weil die Kindheit eingezogen war, in dieses alte Haus, vielleicht weil sie ein wenig neidisch waren und es nicht zeigen wollten, vielleicht auch nur, weil sie nicht verstanden.
Aber Jule und Gerhard spielen nicht mehr. Nicht mehr an Werktagen und an den Wochenenden schon gar nicht. Jule hat mit dem Kuchenbacken angefangen und Gerhard mit dem Fensterstreichen, bald wird es Herbst werden, meinen sie und sind sich dabei nicht ganz sicher. Sie waren am Meer, gemeinsam, erzählten sie und toll soll es gewesen sein. Man will gar nicht fragen an welchem, es ist auch egal, es scheint das richtige gewesen zu sein. Am Meer, vermutet man, haben sie auch den Grund gefunden um mit dem fußball spielen aufzuhören, den Grund für den Schwarzteeentzug, den Grund für die Röcke und die gemeinsame Küche.
Jules Bauch wächst seit den Meertagen, sie glaubt das wisse keiner, sie ist sich dessen viel zu sicher. Doch ein jeder hat es verstanden. Am Abend, wenn langsam die Lichter in den Wohnungen angehen und Gerhard sie leise umarmt, weint sie ein wenig, blickt auf den Fußball in der Ecke.
Am Morgen schmeißen die Nachbarn ihnen Karten in den Postkarten. Wir hoffen es wird ein Stürmer, steht darauf, auch wenn es schneit. Da kann Jule wieder lachen und nicken, den Fußball aus dem Fenster schmeißen und die Schuhe dazu. Im nächsten Sommer, das weiß sie plötzlich, wird man das alles wieder finden.

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