Donnerstag, 19. April 2007

Otto (I)

Vielleicht hatte Otto auch viel mehr verstanden, als er am Fenster stand und gar nichts sagte. Es war Sommer und er fror. Otto fror zu oft, sagten die Leute, die ihn die Türen hinter sich schließen sahen und hörten, wie er die Stiegen hochging. Langsam, als hätte er es gerade erst gelernt.
Otto war seltsam, auch dass sagten die Leute. Sie kannten ihn lange, da waren sie sich sicher. Otto der Dorftrottel, meinten manche und lächelten ihn an, wenn er langsam sein Geld an der Kassa nachzählte. Zweimal. Man konnte sich ja nicht sicher sein. Ebensowenig wie man wusste, wann Otto überhaupt im Geschäft auftauchte und ob er nicht vergessen hatte, was er dort eigentlich wollte. Otto, sagte Liese bei der Feinkost dann, Otto, schau her, 10dag Schinken, das kaufst du immer. Und Otto nickte, nahm die Wurst und aß sie alleine zum Abendbrot. Die Fensterläden geschlossen, die nackte Glühbirne über seinem Haupt. Er zählte die Bretter an der Wand, immer und immer wieder. Und wusste, dass sie nicht wiederkam.
Dass sie nicht wiederkam, daran dachte Otte auch als er nun am Fenster stand. Als er am Fenster stand und fror. Ihr Haar war golden gewesen, er wusste es genau, so genau wie er ihren Atem roch, wenn er nachts plötzlich erwachte. Minze überall im Raum. Minze, wie hatte sie die geliebt. Nachdem sie gegangen war, hatte Otto ihren Namen auf ein Taschentuch geschrieben und in eine Schatulle gelegt. Die Schatulle geschlossen und nie wieder geöffnet. Sowie er ihren Namen nie wieder aussprach, er dachte nur daran ihn zu vergessen und schaffte es nicht.
Sie waren über die Felder gelaufen damals, über die Felder nahe der Donau, es war verboten, dachten sie und machten es genau deswegen, fielen ins hohe Gras und tranken Wein aus der Flasche. Otto, der Schüchterne und dieses blonde Mädchen, das ihn an der Hand nahm um ihm das Tanzen beizubringen. Otto, der Schweigsame und dieses schöne Mädchen, das seine Stirn küsste, bevor es abends verschwand. Otto, der Nachdenkliche und dieses wortgewandte Mädchen, das die Welt gesehen hatte, zumindest hatte sie das behauptet. Otto glaubte ihr aufs Wort.
Sie waren zur Donau gefahren, um zu baden. Ihr geblümtes Kleid legte sie neben seine Hosen und zog ihn nach sich ins kühle Nass. Otto hat sie später geküsst, er hat das niemals vergessen, sie hatte gelacht danach. Otto war glücklich. Es war Sommer und es war gut so. Sie waren knapp 20 und dachten sie wüssten Bescheid. Es wurde Winter und es war gut so. Sie waren ein wenig älter und wussten dennoch nicht mehr. Nicht mehr vom Leben, der Liebe, nicht mehr von der Zukunft. Das Mädchen baute Schneemänner und schrieb Ottos Namen in den Schnee. Otto hielt um ihre Hand an und sie lachte. Nahm die seine und sagte ja.
Otto, wie er weinte in diesem Moment, wie er sie umarmte und nicht wusste was zu tun. Wie sie aus dem Haus liefen, zur Donau fuhren und gar nichts sagten. Wie sie vorm Altar standen drei Monate später. Wie sie lachten und in einem Zimmer hausten, dass schäbig war, aber ihr Eigentum.
Otto fand Arbeit in Wiener Neustadt, sie verließen die Felder, zogen in die Stadt. Dort gab es eine Wohnung statt dem Zimmer. Abends wenn sie im Bett lagen, starrten sie lange an die Decke, die blau gestrichen war und lauschten dem Straßenlärm. Wiener Neustadt war nicht das was sie sich gewünscht hatten, aber es war in Ordnung. Das blonde Mädchen, dass immer mehr zu einer blonden Frau wurde, liebte den Wasserturm, den Dom, St. Peter an der Speer. Otto liebte es, wie sie die Gebäude liebte, lief über den Hauptplatz und kaufte sonntags früh frische Semmeln. Warm mussten sie sein, damit die Butter von selbst zerlief.
Ein Kind kam zur Welt, sie nannten es Severin. Es weinte in der Nacht und sie legten es zu sich ins Ehebett. Es zuckte im Schlaf mit seinen kleinen Beinen. Es hatte kleine Hände, so klein, man hatte Angst sie könnten brechen, bei einer jeden Berührung. Es starb Monate später. Plötzlicher Kindstod, nannten das die Ärzte. Nie erholten sie sich davon. Nie kam ein zweites Kind zur Welt. Die Decke über dem Bett blieb blau. Doch das Bett kalt, kalt wie das Meer, an das sie mit dem Kind fahren wollten, kalt wie der Schnee, in dem sie mit dem Kind herumtollen wollten.
Die Jahre zogen ins Land. Sommer und Winter. Manchmal fuhren sie zu Feldern. Meistens wenn der Raps blühte. Sprachen über den Anfang, wie sie sich kennengelernt hatten, wie sie in der Donau schwimmen waren. Wie die Sommer warm waren und die Winter kalt. Wie sie die Landschaft liebten, weil sie zu ihnen gehörte. Weil es die Heimat, die Heimat die sie brauchten, die ihr Kind nur ansatzweise erfahren hatte und vielleicht doch mehr als manch andere. Otto hielt ihre Hand bei den Gesprächen, legte den Kopf an ihre Schulter und fror.
Die Jahre zogen ins Land. Frühling und Herbst. Die blonde, die schöne, die wortgewandte Frau wurde schwächer, wurde blasser, brach zusammen. Krebs nannten die Ärzte das. Nie erholten sie sich davon. Die Frau, die weinte, im Ehebett, die er stützte, als sie zum Wasserturm gingen, die im Dom saß und betete. Die Bescheid wusste, über das Ende. Das Ende das nahte. Otto weinte, weinte vielmehr als die Frau. Fuhr an die Donau mit ihr, zeigte auf die Felder auf der anderen Seite, verstand nicht. Nichts.
Es war Mittwoch und die Frau musste ins Spital. Goss die Blumen ein letztes Mal, sah Otto in die Augen, küsste seine Stirn. Es war Dienstag und die Frau starb. Starb alleine. Otto hat sich das nie verziehen.
Die Monate kamen und gingen. Otto alterte. Alterte in der Wohnung, der Arbeit, alterte im Ehebett, sah an die Decke und sah gar nichts. Otto beschloss wegzuziehen, weiter nach Süden, weg von der Erinnerung, vom Minzgeruch, den vielen Blumen in der Wohnung, die welkten, so schnell. Er kam nicht weit, war zu schwach, sah den Berg und blieb. Wechsel nannten die Leute ihn, er mochte den Namen, mochte, wie er in sein Leben passte. Kaufte ein kleines Holzhaus, sprach nicht mit den Leuten. Nie besuchte er seine Nachbarn und wenn sie vor seiner Tür standen, tat es ihm leid, aber er schickte sie weg, schloss die Tür hinter sich und ging die Treppen hinauf. Langsam, als hätte er es gerade erst gelernt, das sagten zumindest die Leute, die vieles sagten, über diesen seltsam Kauz, der nicht sprach und wohl nicht ganz dicht war. Otto machte das nichts aus, er lag in seinem Bett. Es war schmal und nachts roch er die Minze. Er stellte die Schatulle in sein Nachtkästchen und sah der Sonne zu wie sie hinter dem Wechsel verschwand. Er liebte die Wälder und die steilen Hänge. Er dachte an sich und das blonde Mädchen, wie sie über die Felder gelaufen waren. Sie hätte es geliebt hier, im Süden des Landes.
Es wurde Sommer und Otto fror. Stand am Fenster und hatte vielleicht mehr verstanden als die Leute dachten. Hatte verstanden, dass man nicht davonlaufen konnte, vor der Angst, der Angst vor der Realität. Otto zitterte, er sah die Rosen im Garten, sah die Nachbarin winken, sah die Wolken vorbeiziehen. Er beschloss hineinzugehen, ihren Namen zu wispern und Schinken bei Liese zu kaufen. Otto ging auf die Stiegen zu und fiel. Genickbruch nannten die Ärzte das. Otto fühlte, dass er nach Hause kam.

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